Ich spüle meinen Blechteller. Es gab Reis mit Sambar, wie
jeden Mittag. Aber diesmal war es etwas Besonderes. Es war das letzte Mal.
Morgen Abend sitze ich im Flugzeug und blicke auf ein Land, das für 8 Monate
meine Heimat war. Der Chai beim Moslem am Kreisel, die Obsthändlerin, die für
uns abrundet, der Conductor im Bus, der uns freundlich zuwinkt, die Kühe auf
der Straße, das Treiben auf dem Markt in Hassan, all das wird mir fehlen. Ab
übermorgen werde ich nicht mehr ständig gefragt, ob ich schon gegessen habe und
in ein strahlendes Gesicht blicken, wenn ich mit „uta aytu“ antworte. Die
Offenheit und Gastfreundschaft der Menschen hier, sie hat mich beeindruckt.
Während meiner 8 Monate schlug mir nicht ein einziges Mal Fremdenhass entgegen.
Im Gegenteil, man hat uns überall mit offenen Armen empfangen. Ich werde es
vermissen, mich mit meinem Gegenüber im Zug, Bus oder beim Einkaufen über alles
Mögliche zu unterhalten, von der richtigen Zubereitung von Biryani über die
deutsche Geschichte bis hin zu den aktuellen Problemen Indiens. Vor allem aber
werde ich den Alltag in der Brückenschule vermissen. Das Herumalbern mit den
Kindern und den Brückenschullehrern, den Playground, ja selbst den täglichen
Reis. Dieses Land mit all seinen Gegensätzen und Besonderheiten, es wird mir
fehlen. Der Satz von Herman Hesse, er ist wahr: „Wer einmal nicht nur mit den
Augen, sondern mit der Seele in Indien gewesen ist, dem bleibt es ein
Heimwehland.“ In den vergangen 8 Monaten ist Indien eine zweite Heimat für mich
geworden und es wird immer ein Teil von mir bleiben.
Doch was mache ich aus all den Erfahrungen, die ich hier
gemacht habe? 8 Monate lang habe ich mit Kindern zusammengelebt, deren Familien
zu arm waren, um ihre Schulbildung zu finanzieren. Kinder, die teilweise kein
festes Dach über dem Kopf hatten, sondern auf der Straße gelebt haben. Und
obwohl unsere Lebensgeschichten so unterschiedlich sind, habe ich eine sehr
starke Bindung zu ihnen aufgebaut. Wenn ich auf dem Playground mit den älteren
Kindern Volleyball gespielt habe, dann hatte ich nicht das Gefühl Betreuer zu
sein, sondern meine Mitspieler waren Freunde. Und nun kehre ich zurück in mein
altes Leben. In ein Haus, das fast so groß ist wie die ganze Brückenschule. Wo
nicht 30 sondern 3 Leute leben. Ein Kleiderschrank erwartet mich, der genügend
Klamotten für 5 Kinder hat. Ist das fair? Warum stehen mir alle Möglichkeiten
offen, während diese Kinder darum bangen müssen, überhaupt irgendeinen
Abschluss zu bekommen? Wieso durfte ich wohlbehütet aufwachsen, während andere
Kinder täglich für ihr Essen betteln müssen?
Diese Ungerechtigkeit war mir auch schon vor Indien bewusst. Ich kannte
die Bilder von Armut aus dem Fernsehen. Ich wusste, dass man eigentlich etwas
dagegen tun müsste. Doch es blieb beim „müsste“. Hier habe ich gesehen, wie
viel man mit wenig Geld erreichen kann. Gerade einmal 25€ kostet der Unterhalt
für ein Kind in Prachodana pro Monat. Das ist weniger als ein 1€ pro Tag, der
einem Kind ermöglicht zur Schule zu gehen, eine Perspektive gibt und erlaubt „Kind
sein“ zu dürfen. Doch was mache ich mit diesem Wissen? Auf einen Euro am Tag
kann man leicht verzichten, aber auf Indiens Straßen leben viele Kinder. Wie
viel kann, will, muss ich von dem, was ich habe abgeben? Reicht bloßes Spenden
überhaupt oder sollte ich nicht viel lieber mein Leben und Beruf darauf
ausrichten, anderen zu helfen? Viele Fragen, auf die ich keine passende Antwort
habe. Ich weiß nur, ich darf die Erfahrungen hier nicht verdrängen. Ich darf
nicht die Verantwortung weiter von mir weisen und die Probleme ignorieren, weil
sie wieder nur im Fernsehen zu sehen sind.
(Robin)